12.05.2005
Ernst Habermann war Professor für Pharmakologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und langjähriger Vorsitzender der Ethikkommission für ärztliche Forschung am Fachbereich Medizin.
Als engagierter Kämpfer gegen Scharlatanerie hat er Vorträge gehalten und Artikel geschrieben, die im WWW teilweise noch erhalten, aber über etliche Domains verstreut sind.
Ernst Habermann starb im Jahr 2001. Dank der freundlichen Erlaubnis von Frau Habermann darf ich Artikel ihres Mannes in meiner Web-Site wiedergeben.
Der folgende Test stammt aus einer Diskussion der "Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften" zum Thema "Evidence based medicine".
Aribert Deckers
Hauptquelle: http://www.med.uni-giessen.de/fachinfo/num-ethik.htm
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"Der Geldwechsler und seine Frau"
Quinten Massys (Löwen 1456/66 - Antwerpen 1530).
Das 1514 entstandene Bild hängt im Louvre zu Paris. Dies ist eine aufgehellte Version des Originalbildes. Einer der elementaren Bestandteile des Bildes, die Waage, ist hierdurch deutlicher zu erkennen.
Die Handlungen der Figuren stehen in Verbindung mit den beiden
Aspekten der Ethik, die der Beitrag abhandelt. Der Geldwechsler
befaßt sich - wie sollte es anders sein - mit numerischen,
quantitativen Aspekten. Eine inzwischen verlorene Inschrift auf
dem Rahmen sollte ihn an seine nüchterne Berufsethik
erinnern: "Die Waage sei gerecht und die Gewichte gleich." Die
Frau hingegen weist auf eine Seite in ihrem Stundenbuch, um die
sehr persönliche Zuneigung zwischen Madonna und Kind
darzustellen, als stärksten Ausdruck der interpersonalen
Ethik.
Das Genfer Gelöbnis fordert: "Das Wohl meines Patienten soll meine oberste Sorge sein." Wer würde dem nicht zustimmen? Der Arzt tut sein Bestes für seinen Patienten. Dieser erwartet von seinem Arzt persönliche Hilfe und honoriert ihn im umfassenden Sinne des Wortes. Zwei Personen gehen eine vertragsähnliche Bindung ein. Beiderseits wird auf Treu und Glauben gesetzt. Die uralte Regel des "do, ut des" (ich gebe, damit Du mir gibst) kommt zum Tragen. Zugrunde liegt eine Ethik mit Händedruck, eine interpersonale Ethik. Dieser Bezug sollte gepflegt und weiter entwickelt werden; vielen gilt er als die Essenz der medizinischen Ethik (Habermann, 1995).
Aber wir sollten uns nicht täuschen: So fest ist der Händedruck nicht, daß er alle ethikrelevanten Bezüge symbolisieren könnte. Ein Arzt verhält sich falsch, wenn er "seinen" Patienten nicht auch seiner Person entkleidete, also zu dessen Bestem anonymisierte. Das tut er bereits, indem er eine Diagnose stellt, "seinen" Patienten als "einen" Diabetiker objektiviert und ihn der Therapie nach vorgegebenen Leitlinien unterwirft. Schon lockert sich der Händedruck. Er löst sich vollends, wenn Entscheidungen, die noch unbekannte Patienten betreffen, vorab gefällt werden. Auch die Mitglieder eines Gremiums, das Diagnoseschlüssel oder Leitlinien zu erstellen hat, werden das Individuum im Sinn haben. Für den Patienten stellen sie aber eine anonyme Macht "da oben" dar. Dabei handelt es sich um Ärzte, die zwar vom zitierten Wortlaut des Genfer Gelöbnisses nicht betroffen, aber gleichwohl seiner Intention verpflichtet sind. Um ihr gerecht zu werden, müssen sie Quantitäten an Nutzen, Risiko und Kosten verrechnen und Randbedingungen festlegen. Kurzum: Der persönliche Bezug weicht einer numerischen Ethik (Habermann, 1997). Ohne Ansehung der Person bedenkt sie Wahrscheinlichkeiten und versucht, die gemeinsamen Vorteile möglichst vieler Individuen nach Maß und Zahl ausgewogen zu maximieren. Hierzu muß sie die Empfänger als Elemente einer Gesamtmenge begreifen, weil ihnen nur so die Vorteile zukommen können, welche einer integrativen Betrachtung entspringen. Auch numerische Ethik ist anthroprozentrisch (siehe v.d. Pfordten, 1996), aber anonym und probabilistisch. Sie ist eine Ethik ohne Händedruck. Operational steht sie im Widerspruch zur personenbezogenen Ethik, intentional ist sie überlegen. Ethisches Verhalten, das einer speziellen Person oder Klientel zugute kommen soll, läuft nämlich Gefahr, die Kant'sche Forderung zu verfehlen: daß unser Handeln einer allgemeinen Maxime zu folgen hat. Ich möchte zeigen, daß numerische Ethik weder ein Widerspruch noch eine - vielleicht ungeliebte - Zutat zur interpersonalen Ethik ist, sondern deren reifere Schwester. Mit Kant's Worten: Zweck ist beidemale der Mensch. Wer Gesundheit als ein sehr hohes Gut betrachtet, wird jede medizinische Ethik als utilitaristisch (siehe Birnbacher und Hoerster 1993) einstufen; denn sie dient diesem Gut gemäß der Maxime "Primum utilis esse". Interpersonale und numerische Ethik unterscheidet sich aber in den Prioritäten der Allokation: Sorgt sich die erste um das Wohlergehen des leibhaftigen Nächsten, so bemüht sich die zweite um den größten Nutzen für die größte Zahl an Menschen, also um abstrakte Kollektive. Mein Beitrag will unterscheiden, nicht bewerten. Vorab seien Unterschiede und Entsprechungen der beiden Ethik-Formen als Tabelle (Habermann, 1997) gegenübergestellt.
Warum blieb die numerische Ethik bisher unbeachtet? Die Gründe mögen in der Evolution des Menschen liegen. Evolution ruht nach J. Monod (1971) auf zwei Säulen: dem Zufall und der Notwendigkeit. Wieviele "Zufälligkeiten" mögen zusammenwirken, bis das Überleben einer zufälligen Mutation gesichert ist! Aber die Evolution hat wohlweislich unsere Vorfahren nicht im statistischen Denken, im Verständnis des Zufalls unterwiesen. Das wäre ein Danaer-Geschenk gewesen; denn wenn es ums Überleben geht, ist promptes Entscheiden wichtiger als zeitraubendes Rechnen. Diese evolutiv bedingte Schwäche im Rechnen hängt uns bis heute an. Sie hindert uns auch, ethische Aspekte unter numerischen Gesichtspunkten zu behandeln - zum großen Nachteil der Ethik. Das krasse "Gut und Böse" bewegt uns, während wir die vielen Zwischentöne übersehen. Der einzelne Bedürftige geht uns eher zu Herzen als ein benachteiligtes Kollektiv.
Damit stoßen wir auf eine weitere, ebenfalls evolutiv bedingte Schwäche der interpersonalen Ethik. Sie leitet sich von der primitiven Ethik unserer Vorfahren ab. Damals hat sie dem Überleben in der kleinen Gruppe gedient. Altruistisches Verhalten schweißt Individuen zu einer nach außen egoistischen Zugewinn- und Schutzgemeinschaft zusammen, und sei es mithilfe von Nepotismus - dieser durch "eigensüchtige Gene" zementiert - und anderen Klüngeleien. Daher rührt unsere Tendenz, für unseren Nächsten möglichst viel aus dem Budget einer Gemeinschaft abzuzweigen und somit Fernerstehende, vielleicht Bedürftigere zu benachteiligen. Wenn es überhaupt einen Fortschritt der Ethik gibt, dann liegt er in der Überwindung der Gruppengrenzen, was eine Erweiterung der urwüchsig personalen um eine abstrahierend numerische Ethik erfordert.
Numerische Ethik wurde in der Medizin nicht benötigt, solange Gesundheit oder ihr Fehlen monokausal erklärt wurde. Gottes Wille brauchte keine statistische Stütze, weil Gott - so meinte man - nicht würfle. Als man später die Medizin auf physikalische und chemische Gesetze bezog, hoffte man gerade dadurch den Zufall, die Unbestimmtheit loszuwerden. Aber mit zunehmender Einsicht erwies sich die strenge Monokausalität eher als Ausnahme. Multifunktionales Denken wurde in der Medizin heimisch. Heute stellen wir in Rechnung, daß verschiedene Faktoren in schwer vorhersagbarer Weise zusammenwirken. Hierzu einige Beispiele:
Score-Systeme, Risikofaktoren, Leitlinien, Epidemiologie haben eines gemeinsam: Sie sind probabilistisch. Wenn wir uns nach ihnen richten, nehmen wir Fehler in Kauf; denn die Richtigkeit hat statistischen Charakter. Unsere Handlungen könnten für die Mehrzahl der Behandelten nachteilig sein, und nur für wenige von Vorteil. Auch wenn wir unsere Kriterien immer weiter verfeinern: die Rolle des Zufalls läßt sich durch Zählen und Messen teilweise voraussagen, eingrenzen, und durch angemessenes Handeln entschärfen, aber nicht beseitigen. Wir müssen mit ihm rechnen, auch in ethischen Dingen.
Nutzung der numerischen Ethik
Längst folgen wir ihren Maßgaben, wie an sechs Beispielen gezeigt werden soll.
Aufklärung und Einverständniserklärung sind genormt. Sie sind formuliert für den mündigen und einsichtigen Bürger in seiner normalen Umwelt, also für eine fiktive Figur mit probabilistischem Zuschnitt. - Die Zumutbarkeit von Belastungen und deren Korrektiv, die Haftung durch Versicherung, werden bestimmt durch rechtliche Setzungen, wieviel ein Mensch oder sein Wohlbefinden im allgemeinen wert sei. Unsere ungeprüfte Auffassung wird dem Betroffenen übergestülpt, wolle er oder nicht. Die Schadenssumme bei klinischen Prüfungen ist auf maximal 1 Million DM/Schadensfall festgelegt; ein gesundheitliches Gut wird verrechnet gegen ein finanzielles. Das mag noch hingehen. Sollten aber mehrere Personen pro Prüfung erheblich geschädigt werden, so wird gemäß Angebot und Nachfrage das "Kopfgeld" sinken. Ökonomie geht vor Ethik.
Den Institutional Review Boards seien die angelsächsischen "Ethics committees" gegenübergestellt. Sie behandeln die Frage, welche ethischen Aspekte jenseits aller Statistik beim einzelnen Patienten zu berücksichtigen sind. Sie vertreten die personale Ethik (Schneiderman und Jecker 1995). Solche Komitees kennt man hierzulande nicht.
Man formuliert Leitlinien nicht nur im Hinblick auf diagnostische und therapeutische Probleme, sondern auch auf die Verfügbarkeit der Güter. Wenn die Güter nicht ausreichen, um alle gleichmäßig Anspruchsberechtigten zu versorgen, wird gelegentlich sogar der Losentscheid als gerechteste Art der Zuteilung betrachtet. Solche Erwägungen, man mag sie hinnehmen oder verwerfen, entspringen dem probabilistischen Charakter der numerischen Ethik.
In milder Form äußert sich numerische Ethik in der Rationalisierung, in krasser Form als Rationierung. Beides geht zu Lasten der interpersonalen Ethik. Aber Rationalisierung bis zur Rationierung ist zur Steuerung eines sozial bestimmten Gesundheitssystems unentbehrlich, weil die Anforderungen grundsätzlich unbegrenzt sind.
Die numerische Ethik hat gegenüber der interpersonalen Ethik einen großen Vorteil: Ihre Entscheidungen sind gefallen, ehe der erste Betroffene ihnen ausgesetzt wird. In dieser Hinsicht ist sie gerecht. Sie weist den einzig gangbaren Weg zur Rationierung (Krämer 1993); nur muß an seinem Beginn ein sozialer Wegweiser stehen, damit eine willkürliche Vorsortierung vermieden wird.
Nicht selten werden numerische und interpersonale Ethik gegeneinander ausgespielt. Vor kurzem ging ein Aufschrei der Entrüstung durch die Tageszeitungen (Gießener Allgemeine am 28.02.97), weil einige deutsche Kliniken die Tageskosten für Patienten auf Intensivstationen erfaßten. Man sprach von "Todescomputern" und unterstellte, die Betreuung der Patienten würde von der Aufbringung des Tagessatzes abhängig gemacht. Solche böswillige Argumentationen verschweigen, daß alle Güter sowohl für den persönlichen Nutznießer als auch für die gebende Gesellschaft interessant sind, und die Verteiler den Anforderungen sowohl der interpersonalen als auch der numerischen Ethik gerecht werden müssen. Die beiden Formen der Ethik sind nicht konträr, sondern komplementär: Sie bedingen einander. Wer zahlenblind ist, der ist auch ethisch blind.
Erst nach einer Katastrophe fragen wir, ob die Feuerlöscher ausreichten. Ärzte und Feuerwehrleute mögen an Aufopferung für die Betroffenen, also an interpersonaler Ethik, nicht gespart haben. Aber wie stand es mit der numerischen Ethik? Wurden die feuerpolizeilichen Vorschriften eingehalten? Wurde beim Bau gepfuscht? Hätte man die Feuerwehr besser ausrüsten sollen, statt für die Verkehrspolizei neue Autos zu beschaffen? Wir lassen unsere Gedanken schweifen, und das Bild der persönlichen Opfer und Täter verblaßt. Weil vieles zusammengekommen sein mag, bleiben die Schuldigen - meist mehr als nur einer - im Dunkeln. Keiner will es gewesen sein; es war ein Zufall oder eine "multifunktionale" Verkettung mehrerer Zufälle. Der zuständige Minister tritt nicht zurück. Die numerische Ethik anonymisiert die Gefahren und die Verantwortlichen. Diese verblassen zu Schreibtisch-Tätern oder -Unterlassern, beides im guten wie im schlechten Sinn.
Mit gutem Grund sind wir in die Zeit der numerischen Ethik eingetreten, denn ohne sie könnten wir keine Prioritäten für ethisch relevante Güter setzen. Zuteilungen solcher Güter müssen in Zahlen ausgedrückt werden, weil sie gegeneinander und auch gegen ethisch Irrelevantes verrechnet werden müssen. Mit jeder Entscheidung für einen bestimmten Verwendungszweck sind Kosten in Form des entgangenen Nutzens für andere Verwendungszwecke verbunden, das sind Opportunitätskosten (Arnold, 1997) nicht nur finanzieller, sondern auch ethischer Art. Ethikfolgen müssen abgeschätzt werden; denn Umverteilungen führen immer zu Konflikten, die wiederum mit ethischen Bandagen ausgefochten werden. Sie müssen ausgestanden werden; denn bereits die Verweigerung der Entscheidung wäre unethisch, weil sie dem Zufall und der drohenden Benachteiligung der schwächeren Gruppe Vorschub leisten würde. Alles hängt zusammen. Insgesamt schlägt das deutsche Gesundheitswesen mit etwa 500 Mrd. DM/Jahr zu Buche, das sind etwa 8% des Volkseinkommens; der Sachverständigenrat der Konzertierten Aktion rechnet mit 9,3%. Die USA steht gar bei 14,3. Das sind ethikrelevante Güter, die wegen ihrer schieren Größe und Komplexität unserem unbewaffneten Menschenverstand und unseren Einwirkungsmöglichkeiten entwachsen sind. Der besiegelnde Händedruck zwischen unseren Vorfahren ist durch den Tastendruck am Computer ersetzt.
Sie schafft nicht nur Recht, sondern auch Gerechtigkeit. Jahrhundertelang haben Ethiker und andere Apostel die ungleiche Verteilung des Wohlstandes über diese Welt bedauert. Nun erreicht die Weltwirtschaft, was Revolutionen nicht vermochten. Die Länder des Wohlstandsgürtels haben gegeizt, früher arme Länder aus Nächstenliebe, also personaler Ethik zu unterstützen. Jetzt müssen die "Reichen", der numerischen Marktgerechtigkeit gehorchend, auf liebgewonnene Vorteile verzichten, damit nicht die Wirtschaftsströme im Rahmen der Globalisierung ihr Bett in lange vernachlässigte, aber sich jetzt entwickelnde Länder verlegen. Nur auf den ersten Blick erstaunt, daß keine Partei, keine Gewerkschaft, sondern Wirtschaftsfachleute (Gierich, 1994) und die christlichen Kirchen (Rat der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz 1997) sich in diesem Sinne äußern. Beide wissen: Globalisierung erzwingt eine numerische Ethik.
Der Konflikt zwischen interpersonaler und numerischer Ethik bricht auf, sobald die Zahl der Mitglieder einer Interessengemeinschaft nicht mehr überschaubar ist. Dann wird die innerhalb der kleinen Gruppe urwüchsige Kompetenz zur Konfliktlösung auf eine höhere Ebene verlagert und dadurch entpersönlicht. Frühzeitig hat dieser Übergang den Menschen bewegt. Die Abwägung von Staatsraison gegen Familienpflicht hat Sophokles in seinem Drama "Antigone" vor 2.400 Jahren als ethisches Dilemma auf die Bühne gebracht. Zuviel wird von der Rechtsprechung verlangt, sollte sie die Aporie auflösen. Zugleich muß sie den Interessen der Person und den Interessen der Gemeinschaft dienen. Der Grad der Sozialpflichtigkeit ist immer ein Kompromiß.
Westliche Demokratien schützen die Person vor dem Zugriff "derer da oben" auf ethisch relevante Güter wie Besitz, persönliche Daten, Selbstbestimmung im möglichst weiten Sinn. Nur bei existentiellen Bedrohungen, etwa durch einen äußeren Feind (Wehrpflicht) oder eine hochansteckenden Gesundheitsschädigung (so bei der einstigen Pockenschutzimpfung) machen auch sie ihre Mitglieder sozialpflichtig. Verzichtet ein Mitglied freiwillig auf relevante Güter zugunsten eines anderen oder der Gemeinschaft, so wird seine Handlung als positiv im Sinne der personalen Ethik ausgelegt. Das ist auch der Fall, wenn die Person sich als Versuchsperson für einen medizinischen Zweck zur Verfügung stellt oder sich zur Organspende bereit erklärt. Aber den Empfangenden kennt der Spender in der Regel nicht, so daß eine Mischform zwischen personaler (seitens des Spenders) und numerischer Ethik besteht. Der personale Bezug wird sogar vertuscht, indem man den Spender vor dem Empfänger geheim hält: Ein solches "Do, ut des" gilt als nicht mehr gesellschaftsfähig.
Stattdessen kommt numerische Ethik ins Spiel, etwa als
Steuerpflicht oder Pflichtversicherung. Der Bürger
entscheidet nicht, ob sein Geld einem von ihm als gut befundenen
Zweck, etwa dem Bau eines Krankenhauses, zufließt oder in
ein von ihm abgelehntes Projekt mündet. Er leistet seinen
Beitrag zur numerischen Ethik, indem er zur Wahl geht und seine
Steuer bezahlt. Je mehr Geld und Befugnisse der Staat an sich
zieht, desto mehr Entscheidungen gleiten aus dem personalen
Sektor in den Bereich der numerischen Ethik: Je höher die
Steuerlast, desto weniger kann der Einzelne stiften, spenden oder
vererben. Die Erledigung von immer mehr ethik-relevanten Aufgaben
durch den Staat dispensiert den Bürger von seiner personalen
Ethik. Warum sollte er sich auf der zwischenmenschlichen Ebene
einsetzen?
Dazu hält er sich seinen Staat, und der soll es richten. So
emanzipiert der Bürger sich in eine neue Abhängigkeit
hinein, weil er an personaler Ethik verarmt, ohne sich als
Träger numerischer Ethik zu erkennen.
Mißbrauch der numerischen Ethik
Noch stärker als die interpersonale verführt die numerische Ethik zum Mißbrauch. Auch dafür hat die Evolution den Grund gelegt. Einst mußte sich der Mensch in der kleinen Gruppe bewähren. In ihr war er zuhause, und sie war durch interpersonale Ethik zusammengehalten. Ethik war ein evolutives Überlebenswerkzeug (Habermann, 1997). Das Gewissen, der Befehl: "Du sollst nicht töten", war auf den Nächsten, also die Gruppenmitglieder gerichtet, und verlor an Kraft in der Peripherie. Die numerische Ethik überschritt die Grenze der Kleingruppe; ihre Bedeutung wuchs mit der Größe des Verbunds. Aber dieser Form der Ethik fehlte die urwüchsige Kraft des interpersonalen Zusammenhalts, die sich altruistisch-positiv im Familiensinn, negativ im Nepotismus äußerte. Man bedenke, daß die zehn Gebote, so auch das Tötungsverbot und die Achtung von Besitztümern, laut Buch Moses auf Angehörige des Volkes Israel beschränkt waren. Wie dieses Volk, mit gehöriger Unterstützung seines Gottes Jahwe, mit benachbarten Völkern umsprang, ist in späteren Kapiteln des Alten Testaments nachzulesen.
Die meisten Menschen haben eine tiefverwurzelte Scheu, dem Nächsten ins Gesicht zu lügen, geschweige denn ihn geradewegs zu töten. Empathie, d.h. die Fähigkeit sich dank emotionaler Intelligenz auf Mitmenschen einzustellen, ihre Leiden und Freuden vorweg zu empfinden schützt die Anderen, stützt unseren Altruismus und damit unsere Ethik (Goleman,1997). Diese reicht bisher nicht aus, den Menschen von der Verwendung fernwirkender oder Massenvernichtungswaffen abzuhalten; denn deren Opfer sind anonym, ihre Leiden unvorstellbar. Hier ist numerische Ethik gefragt. Sie speist sich nicht aus Befindlichkeit, Vorgeschichte und Emotion, sondern aus Einsicht, Zielvorgaben und rechtlichem Denken. Sie braucht eher kognitive als emotionale Intelligenz. Weil sie uns nicht als menschliches, evolutiv sanktioniertes Gut, sondern eher als Instrument der Kontingentierung erscheint, liegt die Hemmschwelle vor dem Mißbrauch der numerische Ethik niedriger, leuchtet die Warnlampe des schlechten Gewissens schwächer als bei der interpersonalen Ethik. Diese Depersonalisierung wirkt sich auf Seite des Gebenden und des Nehmenden aus und verfälscht das Wechselspiel.
Betrachten wir zunächst einen typischen Nehmer: Der meist zwangsversicherte (!) Gesunde zahlt seine Krankenversicherung zusammen mit vielen anderen Abgaben. Als empfangender Patient steht er am Ende einer Kette wohlgemeinter Transfer-Leistungen. Ihren Ursprung, ihren (numerisch-)ethischen Gehalt erkennt er kaum. Eigenes Nachdenken würde ihn beunruhigen; daher läßt er es. Den Dank für Wohltaten, etwa die wiedergewonnene Gesundheit, spendet er nicht der anonymen Gesellschaft; in der Regel betrachtet er deren Leistungen als zugleich selbstverständlich und unzureichend.
Daher nimmt der Versicherte nicht nur, was ihm laut Vertrag zusteht, sondern soviel er kann. Solche "versicherungsbedingten Verhaltensänderungen" würde sich der Nehmer gegenüber einem persönlichen Geber kaum erlauben, aber sein Griff in die Kasse eines anonymen Systems bereitet ihm wenig Pein. Er verdrängt den Gedanken, daß die von ihm gemolkene Kuh weder im Himmel, noch in einem Ministerium gefüttert wird, sondern von seinesgleichen. Dabei hilft ihm seine angeborene Meisterschaft, Vorteilsnahmen als rechtens auszugeben. Gegenseitiges Mißtrauen verbunden mit Strafandrohungen pervertiert, was ethisch gemeint ist, zu einer juristisch bewehrten Transaktion. Ein ermutigender Dank an den Geber - so wichtig bei der personalen Ethik - ist nahezu ausgeschlossen und häufig unerwünscht. Gaben, die der numerische Ethik entspringen, werden zwar theoretisch und praktisch nach dem Prinzip des "do, ut des" abgegolten. Weil aber dieser ethik-immanente Bezug nicht erkannt wird, ist Vorteilsnahme in praxi unausweichlich. Daher ist es zweckmäßig, solche Gaben so weit als möglich auf Subsidiarität zu beschränken, d.h. auf Hilfe zur Selbsthilfe: Der Empfänger sollte einen zusätzlichen Vorteil gewinnen, wenn er die Gabe im Sinne des Gebers einsetzt.
Aber auch der Geber von Zuwendungen im Sinne der numerische Ethik läßt sich allzuleicht zu ethisch zweifelhaftem Verhalten verführen. Dahin führen ihn zwei Wege. Nächstliegend ist seine persönliche Vorteilsnahme gemäß dem alten Spruch: "Wer das Kreuz hat, segnet sich damit." Außer ihm selbst kann der Segen seiner Familie, Gruppe, Partei, seinen Freunden zugute kommen. Persönlicher Egoismus ist der Parasit der numerischen Ethik.
Bedenklicher ist die Versuchung des Gebenden, etwa des Gesetzgebers, die von ihm verfügten Erlaubnisse, Zuwendungen und Verbote als ethisch auszugeben, obwohl sie anderen Intentionen dienen. Man erinnere sich, wie hoch die Volksgesundheit im Dritten Reich geschätzt wurde. Gemeint war die Wehrgesundheit. Wieviel interpersonale Ethik wurde in den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges gefordert durch Machthaber, die durch ihren absoluten Defekt an numerischer Ethik den Bedarf verursacht hatten.
Auch demokratische Systeme kranken an solchen Widersprüchen. Man betrachte die Aktionen und Rechtfertigungen heutiger Sozialpolitik. Geld wird von Unbekannten genommen, an Unbekannte nach schwer vermittelbaren Regeln verteilt und der Transfer im Sinne der numerischen Ethik gerechtfertigt. Die Versuchung liegt nahe, dabei die dem Parteiprogramm des Gebenden geneigte Klientel zu begünstigen. Man erkennt die Verwandtschaft zum alten interpersonalen Nepotismus; nur ist das Stammbuch durch das Parteibuch, die Sozialpflicht durch die Steuerkarte, das Genom durch den Stimmzettel, das Gebot durch Plebiszit ersetzt. Die Dominanz der Sozialpolitik mag heute unvermeidlich sein; sie bedarf einer Steuerung durch numerische Ethik.
In früheren Zeiten war der Unterschied zwischen interpersonaler und numerischer Ethik weniger ausgeprägt. Der Lehnsherr war durch Treu und Glauben persönlich mit seinem Vasallen verbunden. Das Bild des Kaisers und das Kruzifix im Amtszimmer verwiesen auf diese Ethik. Auch Gott war eine Person im ethischen Sinn. Alle Religionen waren mit Bitten und Danksagungen bestückt. Gott gab und nahm wie ein Familienvater. Man mußte sich mit ihm gut stellen und aufrichtig zu ihm sein. Der Bezug war personal und strafbewehrt. Damals ließ sich unter der Maske der personalen Verpflichtung gegen Kaiser und Gott eine allgemeine Sozialpflicht gegenüber dem Staat, der Herrschaft, der Kirche durchsetzen. Heute müssen wir ohne Maske auskommen. Stattdessen sollten wir den mündigen Bürger mit dem Prinzip der numerische Ethik vertraut machen. Dadurch wappnen wir ihn gegen einen Staat, der versucht sein könnte, sein Geschäft unter dem Firmenschild der Ethik zu betreiben. Der Staat aber sollte seine Gesetze so formulieren, daß Sozialpflichtigkeit - die überkommene Stütze der numerischen Ethik - nicht einem allzu individuellen Menschenbild geopfert wird. Homo est animal sociale.
Übergänge zwischen numerischer und interpersonaler Ethik
Interpersonale Ethik bedarf keiner generellen Rechtfertigung; denn sie hat unsere emotionale Zuwendung und wird aus unserer evolutionären Mitgift subventioniert. Dieser mein Beitrag dient der Rechtfertigung der numerischen Ethik. Doch sollte man nicht in den Fehler verfallen, zugunsten dieses neuen Prinzips ältere Motivationen zu negieren. Sie wirken immer zugunsten der urwüchsigen interpersonalen Ethik.
Sophokles hat die Familienbande als Gewicht zugunsten der interpersonalen Ethik herausgestellt. Auch wir geraten in den Antigone-Konflikt, wenn wir, der numerischen Ethik verpflichtet, deren Prinzipien auf Angehörige oder sonst Nahestehende anwenden wollen und uns bei diesem Versuch der Sturm der personalen Ethik ins Gesicht bläst. Hierzu zwei Beispiele.
Pichlmayr (1997) hat ein Dilemma der Transplantationschirurgen geschildert. Organe sind knapp, lebenswichtig und nicht vermehrbar. Also verlangt die numerische Ethik, daß sie bevorzugt bei Patienten mit angemessener Indikation eingesetzt werden. Andere Wartende mit geringeren Erfolgsaussichten müßten zurücktreten, weil ein Bruch der Regeln die Gesamtpopulation der Wartenden benachteiligen würde. Aber für den Chirurgen rangiert das Leiden eines Patienten in besonderer Not vor der nur statistisch erfaßbaren, sich auf viele Anonyme aufteilenden Verschlechterung der Gesamtbilanz. Also wird er bevorzugt bedient.
Solche Sonderbehandlungen kommen auch bei anderen Zuteilungen vor, wie mir als Mitglied des Auswahlausschusses des Boehringer-Ingelheim-Fonds auffiel. Bei unseren Sitzungen hatten wir jeweils über Anträge von etwa hundert Nachwuchswissenschaftlern zu entscheiden; aber das Geld reichte nur für etwa fünfzehn Stipendien. Regelmäßig gelang es uns anhand der eingereichten Unterlagen und eingeschliffener Regeln, also mit durch numerische Ethik gepolstertem Gewissen, etwa 75 % Antragsteller auszuscheiden. Dann wurde es schwierig; denn je öfter und genauer wir die verbliebenen Anträge durchsahen, desto mehr erkannten wir die Antragsteller als Personen (Habermann, 1996a).
Mit diesem Dilemma muß jeder Lehrer vor allem bei mündlichen Prüfungen fertigwerden. Einerseits muß er ohne Ansehung der Person bewerten. Andererseits muß er die Person bewerten, was eine personale Wechselwirkung mit ihr voraussetzt, ehe der Prüfer das Gut (die Examensnote) zuteilt. Für solche Situationen muß eine Flexibilität der Urteilsfindung, also eine Oszillation zwischen numerischer und interpersonaler Präferenz zugestanden werden. Dazu ist der Mensch dank seiner notorischen (Habermann, 1995, 1996b) Instabilität in ethischen Dingen nur allzuleicht bereit.
Wer die numerische Ethik als Geber mißbraucht, wird zu Recht als Schreibtischtäter im negativen Sinn gebrandmarkt. Mein Beitrag ist aber zu Ehren der vielen Kollegen verfaßt, die von ihrem Schreibtisch aus in anonymer Weise und ohne Aussicht auf Dank die numerische Ethik optimieren. Diesen Schreibtischtätern im positiven Sinn - es gibt deren mehr als man glaubt - sei hier ausdrücklich gedankt; denn sie haben für diesen Beitrag Modell gestanden.
Ethik regelte ursprünglich das Zusammenleben in der kleinen Gruppe. Sie war interpersonal, weil die Kontrahenten miteinander bekannt waren. In der modernen Massengesellschaft besteht zwar diese Form der Ethik in überschaubaren Gruppen fort.
Das Zusammenleben in der Massengesellschaft verlangt aber
zusätzlich eine numerische Ethik . Sie ermöglicht, ohne
Ansehung des Gebenden und Nehmenden, eine Zuweisung
ethik-relevanter Güter. Sie ersetzt personenbezogene
Betroffenheit durch integrierende Vernunft, Empathie durch
Kognition. Sie arbeitet gemäß rechtlichen,
anonymisierenden und probabilistischen Vorgaben, und
unterscheidet sich dadurch von der interpersonalen Ethik. Nur die
numerische Ethik ermöglicht eine Abwägung zwischen
ethik-relevanten, aber ansonsten inkommensurablen Gütern,
auch solchen ökologischer Art, und mindert dadurch
Konflikte, wie sie bei Rationierung unvermeidlich sind. Nur sie
erlaubt eine Globalisierung in Raum und Zeit. Sie ist
gefährdet, wenn überforderte Organisationen, z.B. der
Staat, immer mehr ethik-relevante Aufgaben und für sie
erforderliche Mittel an sich ziehen und dadurch die Freiheit
interpersonaler Ethik beschneiden. Die Vorteile der numerischen
Ethik werden erkauft durch einen Verlust an menschlicher
Gegenseitigkeit.
So entsteht ein Spannungsfeld zwischen beiden Formen; daraus
sollte sich Komplementarität entwickeln.
Die Evolution hat unseren Vorfahren die interpersonale Ethik als Überlebenswerkzeug mitgegeben. Um die numerische Ethik müssen wir uns selbst bemühen; sie ist ein Überlebenswerkzeug unserer Zukunft.
Tabelle: Zwei Typen ethischer Entscheidungen (nach Habermann 1997)
Typ interpersonal numerisch Entscheidung persönlich plebiszitär oder diktatorisch Partnerschaft bilateral anonym Richtlinien qualitativ quantitativ Bezug Einzelfälle Gruppen Verweigerung knapper Güter sehr schwer immer möglich Nutzen-Risiko-Abschätzung emotional besetzt kognitiv Abschätzung der Ethikfolgen abgelehnt essentiell statistische Erwägungen abgelehnt essentiell Zukunftsbezogen begrenzt essentiell evolutionär gebahnt ja nein durch Kants Imperativ gedeckt ja ja
Summary
Ethics originally regulated man's social existence in small
units. They were interhuman, since the opponents were acqainted
with one another. In small, clearly defined groups this form of
ethics does, in fact, still exist in our modern faceless society.
However, co-existence in today's anonymous society also requires
a further - a numerical - form of ethics, which, independent of
giver and taker, enables the allocation of ethically appropriate
goods. This form of ethics replaces personal consternation by
comprehensive reason, and empathy by cognition. It functions
according to legal, anonymizing and probabilistic factors, which
is what it distinguishes it from interpersonal ethics. Only
numerical ethics facilitate an evaluation between ethically
relevant but otherwise immeasurable resources, including those of
an ecological nature, thereby reducing the conflicts which are an
inevitable side effect of rationing. Numerical ethics permit a
globalization in space and time. They are at risk when
overburdened organizations, such as the state, assume control of
more and more ethically relevant tasks as well as the resources
required by these, thereby curtailing the freedom of
interpersonal ethics. The price of the advantage of numerical
ethics is the loss of human reciprocity. And so an area of
conflict emerges between the two forms, from which a
complementary relationship should develop.
Evolution endowed our ancestors with interpersonal ethics as a
tool for survival. Numerical ethics, which we have to acquire for
ourselves, will prove to be necessary for our future survival.
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Aribert Deckers