11.05.2005
Ernst Habermann war Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Als engagierter Kämpfer gegen Scharlatanerie hat er Vorträge gehalten und Artikel geschrieben, die im WWW teilweise noch erhalten, aber ber etliche Domains verstreut sind.
Professor Habermann starb im Jahr 2001. Dank der freundlichen Erlaubnis von Frau Habermann darf ich Artikel ihres Mannes in meiner Web-Site wiedergeben.
Aribert Deckers
-------------------------------------------------------------------------------
Vortrag anläßlich der Promotionsfeier des Fachbereichs Humanmedizin
der Justus-Liebig-Universität Gießen
16.12.1994
Laut Programm soll ich Sie, unsere Promovierten, auf das Genfer Gelöbnis (1) verpflichten. Sie sind dazu bereit; sonst säßen Sie nicht hier. Aber Gelöbnisse - denken Sie an die kumulativen, als Einbahnstraße angelegten, am Ende rechtlich bewehrten Versprechungen, die auf eine Ehe hinauslaufen - sollten gut überlegt sein. Daher ändere ich das Programm ein wenig, indem ich hinter "Genfer Gelöbnis" ein Fragezeichen setze. Der erste Teil meines Vortrags soll die Änderung rechtfertigen. Der zweite Teil beschreibt künftige ethische Zielkonflikte, auf die Sie gefaßt sein müssen. Im dritten Teil entwickle ich fünf Leitsätze, die Ihnen helfen sollten.
I.
Zuerst frage ich, was Ihre Promotion mit diesem Gelöbnis verbindet.
Die Antwort ist: Nichts! Ihr Doktorhut behütet nur Ihre wissenschaftliche
Leistung. Laut den Titeln Ihrer Arbeiten haben Sie sich fast
ausschließlich mit dem Gewinn von Erkenntnissen beschäftigt, die
erst viel später, wenn überhaupt, ärztlich genutzt werden. Das
Genfer Gelöbnis erwähnt diese wissenschaftliche Basis des
ärztlichen Berufs mit keinem Wort. Es läßt Sie daher allein
mit den Schwierigkeiten, die eine Amalgamierung von überkommenem
ärztlichem Denken, wissenschaftlichem Fortschritt und heutigen
Anforderungen der Gesellschaft erschweren. Es verpflichtet Sie nicht einmal
zur ständigen Vertiefung Ihrer Kenntnisse und Fertigkeiten. Für
Wissenschaftler sind Gelöbnisse mit anderen Schwerpunkten formuliert
worden.
Damit bin ich beim zweiten Fragezeichen: Wird das Gelöbnis heutigen Anforderungen an den Arzt in klassischem Sinn gerecht? Auch das bezweifle ich. Ich begründe meinen Zweifel, indem ich sechs der neun Handlungsanweisungen des Gelöbnisses (s.u. Tab.1) zerpflücke.
Satz 1.: "Ich will meinen Lehrern die Achtung und die Dankbarkeit
erweisen, auf die sie Anspruch haben".
Je nach Betonung des Nebensatzes hört sich der Hauptsatz positiv oder
ironisch an. Aber was soll er überhaupt! Ihr Dank an uns Ältere
sollte darin bestehen, daß Sie Wissenschaftlichkeit,
Verläßlichkeit und vor allem die menschliche Wahrnehmung des
Patienten im Sinne behalten, bis zum Ende Ihres Berufslebens. Nach meiner
Erfahrung als Prüfer sind unsere Absolventen garnicht so schlecht. Einmal
in der Praxis, übernehmen sie die Unarten ihrer fortgeschrittenen
Kollegen. Das ist kein Dank an uns.
Satz 2.: "Ich will meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und
Würde ausüben".
Das hört sich gut an. Aber der
Skeptiker meint: Gewissenhaftigkeit ist eine exekutive Tugend; auf ihr
Substrat kommt es an. Die angesprochene "Würde" schmückt den Arzt,
wie auch die "Ehre" und die "edle Überlieferung des ärztlichen
Berufes" im fünften Gebot des Gelöbnisses. Alles sei ihm
vergönnt. Aber welch ein Ungleichgewicht! Das Gelöbnis
unterschlägt die überaus verletzliche, und häufig verletzte,
Würde des Patienten. Das ist sein schwerster Defekt. Gelöbnisse
beurteile man, wie wissenschaftliche Theorien, auch nach dem, was sie
verschweigen.
Satz 3.: "Die Gesundheit meines Kranken soll meine oberste
Erwägung sein".
Der Skeptiker meint: Der Satz ist eine stilistisch miserable und sogar
entstellende Übersetzung des "Salus aegroti suprema lex". In der
ärztlichen Realität tritt "Salus" in Konkurrenz mit der "Voluntas",
d.h. dem Willen des mündigen Bürgers, mit dem "Primum nil nocere"
und dem "Primum utilis esse". Alle vier Sätze verkünden Primate, und
verlangen eine Güterabwägung (2). Das Genfer Gelöbnis - mein
Vorwurf - kennt keine Güterabwägung. So geht es zu, bis zu dem
naiven
Satz 6.: "Meine Kollegen sollen meine Brüder sein".
Der Skeptiker fragt: Warum nur die Kollegen? Wirklich alle? Auch bei
Schadensersatzprozessen? Und schließlich
Satz 8.: "Ich will mit höchster Ehrfurcht das Leben erhalten
von der Empfängnis an......",
also - so erläutere ich - bereits vor der Nidation. Wer dem zustimmt,
müßte auch die Minipille verbieten, weil sie zumindest auch die
Nidation beeinträchtigt.
Ich würde mißverstanden, wenn man aus meiner Kritik eine Ablehnung in Bausch und Bogen herausläse. Die Intention des Gelöbnisses ist zeitlos gültig. Aber es wurde 1948 formuliert und 1968 nur ergänzt. Aus seinen beiden Appellen an die Menschlichkeit hört man die Schrecken des eben überstandenen Krieges, der Nürnberger Ärzteprozesse. Die Medizin war noch nicht zur strikten Biowissenschaft entfaltet. Das Individuum im Sinne der westlichen Demokratie war erst im kleineren Teil der Welt anerkannt. Mein Rückblick sollte zeigen, daß die unerhörte Evolution unseres Denkens in den letzten 50 Jahren auch unsere Ethik im Sinne einer Koevolution einbezogen hat.
Der Mensch ist und bleibt ethikfähig; sonst gäbe es ihn nicht. Daher ist und bleibt er auch ethikbedürftig (3). Aber es wäre falsch, Sie auf eine festgefügte Ethik zu verpflichten. Ich halte es mit Odo Marquard, der sagte: "Moral ist immer vorläufig und ohne prinzipielle Rechtfertigung" (4) und mit Popper, der ethische Sätze als nicht falsifizierbar einordnete. Wer sein Verhalten nach einem Kochbuch einrichten möchte, mag die Ungewißheit bedauern. Aber beginnt nicht gerade dort, wo sich der Pferch der verordneten Regulative öffnet und die Zügel der wissenschaftlichen Falsifikationen schleifen, die Fülle der ärztlichen Freiheit? Auf offenem Feld können Sie sich entscheiden, und weil Sie es können, müssen Sie sich entscheiden. Weinen Sie also dem Verlust eines Gelöbnisses keine Träne nach. Die Ethik bleibt; sie ist ein überaus plastisches unentbehrliches Konstrukt des Menschen. Sie entwickelte sich mit seiner Sozialisierung, trägt die Solidarität und ermöglicht das "Miteinanderauskommen" in einer Welt voller Konflikte (5). Wenn sich unsere Welt ändert, dann auch unser Weg zu diesem Ziel. Das Ziel selbst unterliegt - in Grenzen - einer ständigen Neudefinition durch die Gesellschaft. Sie sorgt schon dafür, was ihr recht ist. Als einer der wenigen Überlebenden des Jahrgangs 1926 mußte ich mich nacheinander drei konträren ethischen Wertsystemen fügen; hätte es mich nach dem Krieg in die DDR verschlagen, dann wären es deren vier gewesen. Ein ehemaliger Doktorand von mir in Würzburg wurde verurteilt, weil er nach seiner Niederlassung als Arzt Opiate an schwer Abhängige verabreichte. Heute gibt man Methadon unter gerichtlicher Billigung. Beide Beispiele belegen die Plastizität unserer Ethik.
Was ist das Besondere an der ärztlichen Ethik? Sie ist eine Berufsethik wie andere. Aber sie ist breiter als die technikbezogene Ethik etwa eines Jumbo-Piloten. Sie greift tiefer, weil es um konkrete Lebensgüter (8) von höchstem Wert geht, für die der Arzt Experte ist, um Gesundheit, Wohlbefinden, Leben und Würde. Der Arzt wirkt bei ihrer Optimierung und Verteilung mit. Er gibt sie nicht einfach an der Wohnungstür ab; der Bedürftige muß ihm Eingang in seine geheimsten Räume gewähren. Vorschriften und Eide setzen daher dem Arzt Schranken und beladen ihn mit den Pflichten des gebenden Experten. Sie schützen dadurch den nehmenden Patienten. Einige Inhalte der spezifisch ärztlichen Ethik sind über Jahrtausende, von Hippokrates (3) über Indien (7) bis Genf (1) überraschend konstant geblieben: Der Arzt muß sein besonderes Wissen und Können gewähren, dessen Mißbrauch abschwören, und Verschwiegenheit bis zum Datenschutz zusagen. Aber die Makroethik der jeweiligen Gesellschaft bestimmt den Stellenwert dieser ärztlichen Mikroethik; wenn es sie drängt, erläßt sie hierzu Gesetze und Vorschriften. So ergänzten einige Länder des Ostblocks das Genfer Gelöbnis in marxistischem Sinn (6).
II.
Gelöbnisse - auch das Genfer - verheddern sich zu leicht in
Detailvorschriften; je genauer sie sind, desto schneller veralten sie. Sie
verhalten sich wie Katechismen zu den zeitlosen zehn Geboten. Ihnen, meinen
Zuhörern, stehen aber spätestens in Ihrer zweiten Lebenshälfte
neue Konflikte in´s Haus, die der Genfer Katechismus noch nicht
ansprechen konnte. Ich nenne vier Beispiele (3):
III.
Trotz allem: Mein Abschluß soll positiv sein. Mitnichten sollten Sie
diese Veranstaltung verlassen wie die Frau des Bischofs von Winchester um 1860
einen Vortrag über den Darwinismus. Sie soll geseufzt haben: "O Gott,
laß es nicht wahr sein. Und sollte es doch wahr sein, dann paß
auf, daß es nicht allgemein bekannt wird." Was ich sagte, sollte
allgemein bekannt werden. Nur wenn Sie wissen, kann ich Sie rüsten
für Ihren Weg in eine ethisch unbestimmte Zukunft. Mit einer genauen
Wanderkarte diene ich Ihnen nicht, weil während Ihrer künftigen
Tätigkeit vertraute Wege unpassierbar und neue gebaut werden. Besser ist
ein Kompaß, der die Richtung vorgibt. Den Pfad müssen Sie selbst
suchen. Der Gott der anglikanischen Dame denkt garnicht daran, Sie an der Hand
über Steilhänge zu führen. Aber am Einstieg zu diesem
ungesicherterten Steig finden Sie einen knappen Pentalog angeschlagen (s.u.
Tab.2). Kein Satz hat mehr als fünf Wörter; jeder hat eine
Begründung.
Promovierte!
Das Genfer Gelöbnis ist ein ehrwürdiges, aber zeitgebundenes
Fragment. Ich verpflichte Sie auf seine zeitlose Essenz mit diesen
fünf Gießener Leitsätzen (Tab.2).
(Die Numerierung ist als Verweis auf den Text des Vortrags eingefügt. Ansonsten ist der Text des Gelöbnisses wörtlich wiedergegeben - auch mit seinen sprachlichen Verdrehungen.)
"Ich verpflichte mich feierlich, mein Leben dem Dienste der Menschlichkeit zu weihen.
[1] Ich will meinen Lehrern die Achtung und die Dankbarkeit erweisen, auf die sie Anspruch haben. [2] Ich will meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. [3] Die Gesundheit meines Kranken soll meine oberste Erwägung sein. [4] Ich will die mir anvertrauten Geheimnisse respektieren, sogar noch nach seinem Tode. [5] Ich will mit allen in meiner Macht stehenden Mitteln die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes hochhalten. [6] Meine Kollegen sollen meine Brüder sein. [7] Ich will nicht zulassen, daß Erwägungen über Religion, Nationalität, Rasse, Parteipolitik oder sozialen Stand zwischen meine Pflichten und meine Kranken treten. [8] Ich will mit höchster Ehrfurcht das menschliche Leben erhalten von der Zeit der Empfängnis an. [9] Ich will selbst unter Drohung mein medizinisches Können nicht benutzen gegen die Gesetze der Menschlichkeit. Ich gebe diese Versprechungen feierlich, aus freiem Willen und auf meine Ehre."
Tab.2: Fünf Leitsätze als Fundamente des Genfer Gelöbnisses
Satz Basis Achte die Würde der Person! Grundgesetz Verhalte Dich vorbildlich! Kant'scher Imperativ Optimiere Dein Können! Vertragsethik Lerne an Zielkonflikten! Evolution der Ethik Entscheide Dich!
Quellen:
-------------------------------------------------------------------------------
Jegliche Weiterverwendung der Texte der Amalgam-Page ist verboten.
Verlage dürfen sich wegen der Nachdruckrechte per Email an mich wenden.
Aribert Deckers